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DZG-Gespräch
Wie Erfahrungswissen die Forschung voranbringt
Silke Lipinski ist Mitglied des Trialogischen Zentrumsrats (TZR) des Deutschen Zentrums für Psychische Gesundheit (DZPG), Koordination Center for Patient and Public Involvement, Klinische Psychologie Sozialer Interaktion am Institut für Psychologie, Humboldt-Universität zu Berlin.
Dr. Myriam Bea ist Geschäftsführerin von adhs-deutschland.de und ebenfalls Mitglied des TZR.
Wir haben mit beiden über den Nutzen partizipativer Forschung und die Unterschiede und Gemeinsamkeiten dieses Ansatzes in der psychischen und körperlichen Medizin gespochen.
Dr. Myriam Bea ist Geschäftsführerin von adhs-deutschland.de und ebenfalls Mitglied des TZR.
Wir haben mit beiden über den Nutzen partizipativer Forschung und die Unterschiede und Gemeinsamkeiten dieses Ansatzes in der psychischen und körperlichen Medizin gespochen.

Frau Lipinski, Frau Dr. Bea, Sie arbeiten für das 2023 neu gegründete DZPG in wissenschaftlichen Positionen und haben selbst Erfahrung mit psychischen Erkrankungen – verkörpern Sie damit eine Idee des DZPG?
Silke Lipinski
Ganz genau. Der tiefgreifende Gedanke der partizipativen Forschung ist, dass man verschiedene Arten von Erfahrung und Wissen zusammenbringt. Das kann auch beides in einer Person vorhanden sein. Insbesondere im Bereich psychologischer und psychiatrischer Forschung ist das eine besondere Herausforderung, da es hier noch immer auch ein großes Stigma ist, mit eigenen Erfahrungen offen umzugehen.
Würden Sie Ihre Erfahrungsexpertise kurz erklären?
Dr. Myriam Bea
Ich habe erwachsene Söhne mit ADHS- bzw. Autismus-Diagnose, bin also Angehörige.
Silke Lipinski
Ich komme aus dem Autismus-Spektrum, beteilige mich im DZPG als Psychiatrieerfahrene.
„Der tiefgreifende Gedanke der partizipativen Forschung ist, dass man verschiedene Arten von Erfahrung und Wissen zusammenbringt.“

Was bedeutet denn genau Patientenbeteiligung beim DZPG? Woran genau werden Patient*innen beteiligt, und wie geht das vor sich?
Silke Lipinski
Die Frage will ich korrigieren. Aus einem wichtigen Grund: Wir haben uns von dem Begriff „Patienten“ distanziert. Das ist im Bereich psychische Gesundheit kein treffender Begriff. Denn zum Beispiel nach einer psychotherapeutischen Behandlung haben Sie ja noch ein Leben mit einer bestimmten Disposition oder mit einer Erkrankung, die vielleicht gebessert, aber unter Umständen nicht weg ist. Das macht Erfahrene nicht automatisch zu „Patienten“. Das ist ja im organischen Bereich oft ähnlich.
Wie meinen Sie das?
Silke Lipinski
Jemand, der vor zehn Jahren eine Krebserkrankung hatte, ist auch Erfahrungsexperte, aber nicht notwendigerweise mehr Patient.
Welcher Begriff trifft dann also besser?
Dr. Myriam Bea
Wir sind Menschen, die eine bestimmte (Krisen-)Erfahrung gemacht haben. Wir sagen deshalb Erfahrungsexpert*innen. Das ist der Begriff, den wir auch in unserem eigenen Gremium im DZPG, dem Trialogischen Zentrumsrat, gewählt haben. Er schließt Betroffene und nahestehende Personen ein. Er gleicht zudem ein mögliches Machtgefälle aus, das im Begriff Patient stecken kann.
Bei der Sprache fängt es also an?
Dr. Myriam Bea
Ja, und ähnlich ist das beim Begriff „Angehörige“. Der ist ja im Grunde rechtlich definiert. Aber wir sprechen von Zugehörigen, das schließt alle nahestehenden Personen ein. Es ist wichtig, dass auch sie mitgedacht werden.

„Das Wissen aus Erfahrungen ist sehr wertvoll. Deshalb geht es uns darum, dieses Wissen in die Forschung einfließen zu lassen.“
Was steckt hinter der Neubewertung von Erfahrungswissen?
Silke Lipinski
Das Wissen aus den Erfahrungen ist sehr wertvoll. Deshalb geht es uns darum, dieses Wissen in die Forschung einfließen zu lassen. Es kann sie qualitativ verbessern, in die richtige Richtung lenken und dazu führen, dass bislang vernachlässigte Themen aufgegriffen werden.
Wie sieht die Beteiligung der Erfahrungsexpert*innen konkret aus?
Silke Lipinski
Wir haben zwei Säulen der Beteiligung im DZPG aufgebaut. Das eine ist die Beteiligung auf allen Gremienebenen, und zwar mit Stimmrecht. Das ist etwas anderes als eine Beiratsstruktur, wie wir sie häufig sehen, wo es lediglich Empfehlungsrecht gibt.
Können Sie die Gremien ein wenig beschreiben?
Dr. Myriam Bea
Gerne! Das Center for Patient and Public Involvement (PPI) unterstützt die aktive Teilnahme von Erfahrungsexpert*innen in den Entscheidungsgremien. An den sechs Standorten des DZPG koordinieren Referent*innen die lokale Beteiligung, sind Ansprechpartner für partizipative Forschung und sichern die Qualität der partizipativen Elemente der DZPG-Projekte. Eine standortübergreifende Referentenstelle unterstützt die Arbeit des Trialogischen Zentrumsrats.
Können Sie die Arbeit des Trialogischen Zentrumsrates skizzieren?
Dr. Myriam Bea
Dieser Rat setzt sich aus bis zu zwei Vertreter*innen für Betroffene, Zugehörige und Forschende pro Standort zusammen und umfasst maximal 36 Personen. Der Zentrumsrat war von Anfang an in die Konzeptentwicklung des DZPG eingebunden und beteiligt sich an Infrastrukturen, Forschungsprojekten und Arbeitsgruppen.
Welches Ziel haben die Arbeitsgruppen?
Silke Lipinski
Den Weg zu psychischer Gesundheit betroffenenorientiert zu gestalten, die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen zu überwinden und die Beteiligung der Erfahrungsexperten zu fördern, um den Zugang und die Versorgung im Bereich psychischer Gesundheit zu erleichtern und zu verbessern.
Daneben gibt es noch lokale Standorträte. Was tun diese?
Silke Lipinski
An jedem Standort des DZPG gibt es einen lokalen Trialogischen Standortrat. Der trifft sich regelmäßig, um den Austausch zwischen Experten aus eigener Erfahrung, Zugehörigen und Forschenden zu fördern. Die PPI-Referent*innen bereiten Themen vor, organisieren Treffen, Projekte und andere Beteiligungsmöglichkeiten vor Ort.
Wie finden denn Menschen zu Ihnen, die sich auch in den Zentrumsräten engagieren wollen?
Dr. Myriam Bea
Jeder, der bei uns mitmachen will, als Betroffener oder Zugehöriger, der kann sich melden. Wir haben jetzt erstmal gesagt, vor Ort macht es Sinn, wenn man nicht mehr als knapp 40 Leute in einem Rat hat, das wäre dann ein limitierender Faktor.

„Partizipative Forschung heißt: In den Forschungsprojekten sollen die Menschen, die die Zielgruppe der Forschung sind, einbezogen werden.“
Sie sprachen oben von zwei Säulen, Nummer eins ist die Beteiligung auf Gremienebene. Und die zweite Säule?
Dr. Myriam Bea
Die zweite Säule ist die partizipative Forschung. In den Forschungsprojekten sollen die Menschen, die die Zielgruppe der Forschung sind, einbezogen werden, und zwar von der Planungsphase über die Auswertung bis zu den Veröffentlichungen.
Inwiefern bei den Veröffentlichungen?
Silke Lipinski
Die Forschungsergebnisse sollen auch in Formaten veröffentlicht werden, die für die Zielgruppe nutzbar sind, also zum Beispiel für die Selbsthilfe, und nicht nur in wissenschaftlichen Publikationen.
Können Sie schon ein konkretes Beispiel für den Nutzen der Partizipation nennen?
Dr. Myriam Bea
Neulich haben wir mit einer Forschenden ihr Studiendesign hinterfragt. Ihre Überlegung war, ob und wie von einer Schlafstörung betroffene Menschen, die nicht in die Klinik kommen können, miteinbezogen werden können, z. B. durch Hausbesuche oder Krankentransporte. Da haben wir lange diskutiert und viel Input gegeben. Das Studiendesign konnte angepasst werden und ist nun praktikabler.
Damit wird die Forschung weniger theorielastig?
Dr. Myriam Bea
Ganz genau. Und das ganz stark durch den Mechanismus, dass Erfahrungsexpert*innen nicht nur angehört werden, sondern ein verbrieftes Mitspracherecht auf Augenhöhe haben.

„Stigma ist ein Riesenproblem, das in der Psychiatrie viel größer ist als bei körperlichen Erkrankungen.“
Ist das Heranziehen von Betroffenen insbesondere bei psychischen Erkrankungen ein wichtiger Paradigmenwechsel, weil sie historisch eher stigmatisiert sind?
Silke Lipinski
Ja. Denn das Stigma ist ein Riesenproblem, das in der Psychiatrie viel größer ist als bei körperlichen Erkrankungen.
Bleiben wir beim Vergleich mit körperlichen Erkrankungen. Gibt es da einen wichtigen Unterschied zu psychischen?
Silke Lipinski
Ja, tatsächlich. Denn wenn wir zum Beispiel mal Lungenerkrankungen nehmen: Da dürfte das Wunschziel der Betroffenen und damit Forschenden klar sein. Die Krankheit soll weg. Das ist bei psychischen Konditionen nicht immer so klar. Zum Beispiel bei Neurodiversität: Die kann eng mit der eigenen Persönlichkeit verknüpft und eine Quelle von Kreativität sein. Da ist die Frage nach einer Behandlung viel komplizierter, und das muss die Forschung zu der Behandlung einbeziehen.
In welcher Form wird Erfahrungsexpertenwissen beigesteuert?
Silke Lipinski
Wichtig ist mir eine Unterscheidung: Wir sind kein Probandenpool und keine Selbsthilfegruppe. Es geht bei dieser Tätigkeit darum, Erfahrungsexpertise einzubringen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Es ist nicht hinreichend erforscht, warum wirksame Medikamente trotzdem oft nicht eingenommen werden. Was Betroffene zum Beispiel über Nebenwirkungen und andere Gründe gegen die Einnahme von Medikamenten berichten, ist wichtig, damit die Forschung von solchen Problemen erfährt und neue Richtungen einschlagen kann.
Bei psychischen Erkrankungen kann die Bewältigung des täglichen Lebens eine Herausforderung sein. Wie passt das zu diesem zusätzlichen Ehrenamt?
Dr. Myriam Bea
Nun, das ist auch bei körperlichen Erkrankungen so, dass sie je nach Akutzustand unterschiedliche Belastungsmöglichkeiten nach sich ziehen. Die Frage der Teilhabe haben Sie bei allen Ehrenämtern: Wer hat Zeit, Ressourcen und die Konstitution, das zu machen? Psychische Krisen und Motivation sind da nur zwei Faktoren. Wir haben es geschafft, dass soziale Selektion bei allen Beteiligten als Problem anerkannt ist. Ein erster Schritt ist die Zahlung einer kontinuierlichen Aufwandsentschädigung. Wir wollen, dass uns so wenig Expertise verloren geht wie möglich.
Kann man auch die Kinder- und Jugendpsychiatrie so mit Erfahrungsexpertise bereichern?
Dr. Myriam Bea
Ja. Da hat sich zum Beispiel der DZPG-Standort Bochum-Marburg stark gemacht, der auch einen Jugendrat hat. Beim jüngsten Psychotherapie Kongress gab es eine großartige Diskussionsrunde mit den Jugendlichen.
Wollen Sie schon ein Projekt aus Ihrer Arbeit vorstellen?
Silke Lipinski
Gerade haben wir eine Online-Befragung durchgeführt, die KOMMIT-Studie. Das ist ein Beispiel für eine sogenannte nutzerinitiierte und nutzergesteuerte Forschung. In diesem Fall hat sich der Trialogische Zentrumsrat entschieden, nicht nur in den eigenen Reihen zu fragen, sondern tatsächlich in der ganzen Bundesrepublik: „Welche Themen soll die Forschung noch aufgreifen, wo sehen Betroffene und Zugehörige Lücken?“ Daraus wird der Forschungskompass Mentale Gesundheit entstehen.

„Dass Menschen ein gut abgedecktes Themengebiet noch als unerforscht bewerten, bedeutet, dass dieses Wissen noch nicht bei der Bevölkerung angekommen ist.“
Gibt es schon Rückmeldung?
Silke Lipinski
Ja, und ein Learning haben wir auch schon. Denn die Menschen bringen tatsächlich neue Forschungsfragen ein, aber ebenso solche, die längst erforscht sind. Das ist ein sehr guter Hinweis für uns. Denn dass Menschen ein gut abgedecktes Themengebiet noch als unerforscht bewerten, bedeutet, dass dieses Wissen noch nicht bei der Bevölkerung angekommen ist. Da haben wir kommunikative Aufgaben offenlegen können.
Frau Dr. Bea, Frau Lipinski, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Helga Rohra, Co-Vorsitzende des DZNE-Patientenbeirats
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