17. Juli 2025

Nationale Dunkelfeldstudie: Fast 13 Prozent der Befragten von sexualisierter Gewalt betroffen – digitale Kanäle spielen eine relevante Rolle

#DZPG

Fast 13 Prozent der 18- bis 59-Jährigen in Deutschland haben laut einer neuen repräsentativen Studie mindestens einmal sexualisierte Gewalt erlebt – hochgerechnet sind das 5,7 Millionen Menschen. Die vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit initiierte Untersuchung beleuchtet erstmals nicht nur die Häufigkeit, sondern auch die Kontexte und Folgen solcher Taten und zeigt dabei auch die wachsende Bedeutung digitaler Kanäle. Besonders betroffen sind Frauen, während mehrheitlich Männer als Täter angegeben werden. Trotz gestiegenem Problembewusstsein bleibt das Dunkelfeld weiterhin groß.

Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist auch in Deutschland ein weit verbreitetes Phänomen. Der Kinderschutz und der Umgang mit den Folgen früher Kindheitsbelastungen stellt die medizinische Versorgung vor große Herausforderungen. Seit vielen Jahren wird kritisiert, dass es keine wissenschaftlich verlässlichen Daten zum Ausmaß sexualisierter Gewalt in Deutschland gibt. Nach wie vor ist neben dem tatsächlichen Ausmaß auch zu wenig über die genauen Tatkontexte bekannt, um gezielt und effektiv vorbeugen zu können.

Fast 13 Prozent haben sexualisierte Gewalt erlebt

Um Abhilfe zu schaffen, hat das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) im Rahmen des Deutschen Zentrums für Psychische Gesundheit (DZPG) zusammen mit der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Ulm und dem Institut für Kriminologie der Universität Heidelberg die erste deutschlandweite, repräsentative Studie durchgeführt, die neben dem Ausmaß auch die Umstände und Folgen der Taten berücksichtigt. Demnach gaben 12,7 Prozent der Befragten an, im Kindes- oder Jugendalter sexualisierte Gewalt erfahren zu haben.

Betroffen sind zumeist Frauen

Die Studie ergab, dass Frauen deutlich häufiger als Männer betroffen sind: 20,6 Prozent aller befragten Frauen gaben an, sexualisierte Gewalt im Kindes- und Jugendalter erlebt zu haben (im Vergleich zu 4,8 Prozent der Männer). In der jüngeren Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen war dieser Anteil mit 27,4 Prozent sogar noch höher.

„Die Ergebnisse weisen auf ein erhebliches Dunkelfeld hin, das im Vergleich zu früheren Untersuchungen nicht abgenommen hat, obwohl das Bewusstsein um die Problematik gewachsen ist und Präventionsmaßnahmen in Deutschland ausgeweitet wurden“, sagt Prof. Dr. Harald Dreßing, Koordinator der Studie und Leiter der Forensischen Psychiatrie am ZI. Auf die Frage nach dem Täter oder der Täterin gab ein Großteil der Betroffenen einen männlichen Täter an. Nur 4,5 Prozent der befragten Personen haben sexualisierte Gewalt durch eine Frau erfahren.

Sexualisierte Gewalt am häufigsten in der Familie

Auch der Kontext der Taten wurde in der Studie erfragt. Demnach berichteten Betroffene am häufigsten, in der Familie oder durch Verwandte sexualisierte Gewalt erfahren zu haben. Auffällig war, dass Männer deutlich häufiger sexualisierte Gewalt in Sport- und Freizeiteinrichtungen, im kirchlichen Kontext und im Rahmen der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe erlebten. Das Forschungsteam macht deutlich, dass diese Unterschiede die Notwendigkeit zeigen, differenzierte Schutzkonzepte für Kinder und Jugendliche zu entwickeln.

DZPG-Sprecherin Prof. Silvia Schneider sagt: „Frühkindliche Traumatisierungen, wie sexualisierte Gewalt, erhöhen das Risiko für psychische Erkrankungen deutlich – von Posttraumatischen Belastungsstörungen über Depressionen bis hin zu Angst- und Persönlichkeitsstörungen. Die aktuelle Studie zeigt: Das seelische Befinden von Betroffenen ist signifikant schlechter als das von Menschen ohne solche Gewalterfahrungen. Um die Häufigkeit sexualisierter Gewalt in Deutschland nachhaltig zu senken, müssen wir daher dringend in evidenzbasierte Präventionsmaßnahmen zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt in Familien und Institutionen investieren.“

Digitale Kanäle spielen eine wichtige Rolle

Bei fast einem Drittel der Fälle (31, 7 Prozent) spielten digitale Kanäle, also beispielsweise Social Media, Messenger-Dienste und Chats, eine wichtige Rolle. In diesen Fällen ging es unter anderem um die ungewollte Zusendung pornographischen Materials, Aufforderungen zu sexuellen Handlungen oder Zwang und Druck, sexuelle Bilder und Videos zu teilen. 61,9 Prozent der Betroffenen, die sexualisierte Gewalt in der realen Welt erfahren haben, haben auch sexualisierte Gewalt in den sozialen Medien erlebt.

Angst führt zu Schweigen

Über ein Drittel (37,4 Prozent) der Betroffenen hatte bisher nicht mit anderen Personen über die erlebte sexualisierte Gewalt gesprochen. Als Grund hierfür berichteten Betroffene häufig Schamgefühle und die Angst, dass einem nicht geglaubt werde. „Das zeigt, dass es immer noch ein erhebliches Dunkelfeld gibt und es vielfach an geschützten Räumen fehlt, in denen Menschen das Erlebte offen ansprechen können, ohne negative Konsequenzen fürchten zu müssen“, sagt Dreßing.

Prävention und Versorgung verbessern

Die Studie zeigt auch deutlich, dass das psychische Befinden der von sexualisierter Gewalt Betroffenen deutlich schlechter ist als das der Nichtbetroffenen. „Es ist wichtig, dass wir die Forschung zum Ausmaß und den Kontexten von sexualisierter Gewalt verstetigen und weiter voranbringen. Nur so können wir Präventionskonzepte und die gezielte medizinische Versorgung von Betroffenen wirklich verbessern“, sagt Prof. Dr. Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des ZI und Sprecher des DZPG-Standorts Mannheim-Heidelberg-Ulm.

Auch DZPG-Sprecher Prof. Dr. Peter Falkai betont die Wichtigkeit der Forschung: „In Zusammenarbeit mit dem Zentralinstitut für Seelische Gesundheit und weiteren Partnern hat das DZPG mit dieser Studie echte Pionierarbeit geleistet. Erstmals wird anhand einer repräsentativen Stichprobe das tatsächliche Ausmaß sexualisierter Gewalt im Kindes- und Jugendalter in Deutschland sichtbar. Trotz gestiegener gesellschaftlicher Aufmerksamkeit besteht hier ein dringender Handlungsbedarf. Sexualisierte Gewalt ist dabei die Spitze des Eisbergs traumatisierender Erfahrungen in Kindheit und Jugend, die weitere Formen physischer und verbaler Gewalt sowie Vernachlässigung umfassen. Das DZPG geht dem Zusammenhang zwischen diesen Erfahrungen und psychischen Erkrankungen auf den verschiedenen Ebenen der Prävention, Frühintervention, spezifischen Behandlung und verbesserten Versorgung intensiv nach und spricht auch die politischen Akteure in ihrer Verantwortung an.“

Zusammen mit dem Umfrageinstitut infratest dimap wurden deutschlandweit 10.000 Personen zwischen 18 und 59 Jahren schriftlich kontaktiert. Knapp über 3.000 Personen haben an der Befragung teilgenommen. Diese Rücklaufquote ist hoch und erlaubt belastbare Aussagen.

Quelle: DZPG

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